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Die Marionette
Podiumsdiskussion

Im Rahmen des 50 jährigen Bühnenjubiläums von GUSTAF UND SEIN ENSEMBLE veranstalteten wir am 16. November 2001 im Lindenmuseum eine internationale Diskussion mit dem Thema:

DIE MARIONETTE - WELTWEITE TRADITION UND INNOVATION AM FADEN.
gekürzte Fassung

Die internationale Gesprächsrunde wurde von der Journalistin Evelyn Lattewitz vom SWR geleitet.

Teilnehmer der Diskussionsrunde:
Prof. Henryk Jurkowski
,PH.D., Historiker für Theater- und Figurentheater, Polen.

Simon Wong,
Direktor der Ming Ri Theatre Company, Hongkong,

Meister Yi-que Huang,
der berühmteste Solomarionettenspieler Chinas,
Direktor der Quanzhou Marionette Troupe aus Fujian.

Prof. Bart Roccoberton
seit 10 Jahren Direktor des Puppet Arts Program an der State University of Connecticut, USA.

Frank Soehnle
figurentheater tübingen, bekannt durch Inszenierungen, Gastspiele in aller Welt, Regiearbeiten und Lehraufträge,

Prof. Albrecht Roser
bereist seit 1956 alle Kontinente mit "GUSTAF UND SEIN ENSEMBLE". Spezialgebiet: Die Marionette. Gründung der Figurentheaterschule Stuttgart an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.

Übersetzung chinesisch-englisch: Simon Wong.
Englisch-deutsch: Richard Gilmore.

Als Grundlage der nachfolgenden Diskussion, wurden die unterschiedlichen Marionetten von Meister Huang, Frank Soehnle und Albrecht Roser demonstriert.

China:
Es wurde ein Video gezeigt, um die 2000 jährige Tradition der chinesischen Marionetten im Stil der traditionellen Peking Oper zu demonstrieren. Man unterscheidet 72 Typen. Die Technik dieser Marionetten ist einheitlich, damit sie jeder Puppenspieler sofort spielen kann, denn Köpfe und Kostüme werden während des Spiels auf der Bühne ausgetauscht.
Meister Huang spielte einen jungen Mönch, um zu zeigen, welche technischen Veränderungen er hinzugefügt hat, um die Marionette lebendiger spielen zu können Er hat als erster einen Körper mit Gelenken gebaut und eine Technik erfunden, mit der die Marionette greifen kann. Die chinesischen Marionetten hatten innen nur einen Bambusstab als Körper. Das Spielkreuz ist ohne Technik, es ist ein Holzbügel, an dem mehr als 20 Fäden befestigt sind. Die Marionette wird durch Fingerfertigkeit und lebenslange Übung bewegt.

Frank Soehnle zeigte ein Heidschnuckenfell, das an vier Fäden gespielt wurde, ohne Spielkreuz. Das "Fell" wurde durch "atmen" lebendig und es konnte laufen. Er zeigte ein paar witzige Kunststücke.

Albrecht Roser spielte die Bauchtänzerin und zeigte, wie durch drei Fäden, die am Bauch befestigt sind, aus dem Schwerpunkt heraus gespielt werden kann. Das Ziel: Einfachheit der Technik mit größter Effektivität des Spiels.


Lattewitz
...Jetzt könnten wir natürlich sofort weiterdiskutieren über unterschiedliche Techniken. Bevor wir aber auf die Details solcher Faszinationen kommen, möchte ich Herrn Prof. Jurkowski die Frage stellen: Hat die Marionette einen inzwischen eher nachrangigen Stellenwert? Ich wüßte gerne, ob das tatsächlich so ist oder ob ich das nur für unsere Region, speziell Deutschland beobachte, welchen Stellenwert hat sie denn zu Zeit?


Jurkowski
Also ich bin kein Praktiker, ich bin Theoretiker des Theaters. Ich kenne das Puppenspiel in aller Welt. Die Marionette hat eine Tradition. Es gibt nicht viele große Meister, die mit Fadenpuppen spielen. Aber diese großartige Tradition lebt speziell in Asien: in China, Indien, Burma und auch in Japan. Wir haben hier sehr interessante Beispiele gesehen, wie die alte Tradition modernisiert werden kann. Da ist das Beispiel von Frank Soehnle. Es erinnert mich an die Radjastani-Marionetten in Indien, Puppen mit einem oder zwei Fäden, nicht zwanzig wie bei den Chinesen. Sie sind sehr einfach, aber ganz lebendig. Deshalb war es für mich ein Vergnügen, Frank Soehnle mit vier Fäden spielen zu sehen - ein Fortschritt in dieser Tradition. Albrecht Roser ist für mich ein großartiger Klassiker in diesem Gebiet. Gestern habe ich andere Marionetten von Frank gesehen. Diese Marionetten hatten bereits eine Tanzposition durch die Aufhängung, ähnlich wie bei den burmesischen Marionetten, das ist dort eine Art Kult.

In Europa gibt es auch andere Marionetten, Faden-Marionetten und Stab-Marionetten, wie z. B. in England, in Sizilien, in Belgien und auch in Tschechien, ebenso in Polen, in Rußland, in Südeuropa. Man kann sich fragen: Sind vielleicht Puppenspieler, die andere Puppenarten spielen, ein bißchen fauler? Man muß fleißig sein, um Fadenmarionetten zu machen. Ja, ich scherze natürlich ein bißchen, aber man braucht sehr viel Zeit und es ist sehr schwer, den Mechanismus einer echten Marionette zu schaffen mit allen mechanischen Teilen. Und trotzdem ist es jetzt Mode in der Welt, nicht nur bei Puppenspielern, auch im Theater, Kleist zu spielen (Essay "Über das Marionettentheater"), in Kanada, Frankreich, in letzter Zeit in Polen im Nationaltheater und das mit großem Erfolg. Damit verbunden ist die philosophische Frage: Was ist Schönheit im Puppenspiel und wie suchen wir diese Schönheit? Kleist ist hier eine Hilfe.
Historisch gesehen gibt es zwei Schulen im Puppenspiel: eine französische mit Guignol-Handpuppen (George Sand und Gaston Baptist) und eine deutsche. Die Deutschen waren der Meinung, daß Handpuppen keine "reinen" Puppen sind, denn darin steckt die menschliche Hand, das ist also ein Mimus. Eine reine Puppe ist die Marionette. Warum? Weil die Marionette eine Distanz zum Spieler hat durch die Fäden. Ich meine, daß heute die Fadenmarionette ein wenig Ihre Wichtigkeit, ihre Popularität verloren hat, weil Fäden immer Beziehungen bedeuten, d. h. sie war immer mit einer heiligen Welt verbunden.
Die ersten Puppen, die englischen Puppen, waren von unten geführte Stabmarionetten, das waren irdische Puppen. Sie existieren noch. Die Franzosen sagen zu Puppen mit vertikalen Fäden à la planchette und in diesem Fall sind das menschliche Puppen. Und dann gibt es Marionetten mit den Fäden nach oben, sozusagen zu Gott und darüber gibt es viele Metaphern, viele alte Dichtungen über die Existenz des Menschen - ein existentialistisches Modell vom Leben des Menschen. Das ist sehr interessant, denn die Puppenspieler machten deutlich, daß Marionetten sich bewußt sind, daß sie Marionetten sind. Die Puppe wußte, daß sie eine Puppe ist und sie, die Puppe, sieht die Fäden, die nach oben gehen. Die Puppe beginnt gegen diese Sklaverei zu kämpfen und stirbt letztlich, weil sie eben ohne die Fäden nicht leben kann. Es war die Metapher für eine Art Existentialismus. Natürlich ist es Clown Gustaf bewußt, daß er ein Mann und eine Marionette ist. Er hat diese Schwierigkeit mit den Fäden.

Lattewitz
Ich möchte schon ergänzen, daß CLOWN GUSTAF mit seiner Verbindung nach oben, also - er ist schon göttlich.
Nach diesem sehr unterhaltsamen und doch bewußt sehr tiefgründigen, kleinem Stück Theorie, das Sie uns jetzt vermittelt haben, Prof. Jurkowski, will ich einige von den Stichpunkten aufgreifen, die sie genannt haben und versuchen eine Verknüpfung zwischen beiden herzustellen. Meister Huang: Können Sie noch mal erklären, wie aus dieser Faszination der Tradition auch Innovation werden kann, wie dies an dem kleinen Mönch eben demonstriert wurde?


Huang
(übersetzt von Simon Wong und Richard Gilmore)
Die 36 verschiedenen Körper haben innen alle nur einen Bambusstab als Körper. Traditionell sind die Hände aus Papier. Herr Huang hat den Körper mit Draht verändert, denn er war ohne Stabilität. Z.B. wurde beim Clown die Schulter mit einem Loch versehen, so daß der Kopf genau hineinpaßt, dadurch ist der Kopf viel beweglicher und die Schultern können hochgezogen werden - eine sehr lebendige, witzige Bewegung. Die Meisterleistung von Mr. Huang ist seine Erfindung -, daß er mit der Puppe etwas greifen und heben kann (mit vier Fäden). Mr. Huang wußte, daß das Publikum davon sehr überrascht sein würde.
Und er hat als erster in China Marionetten mit Gelenken gebaut. Der General kann die Beine nach vorne und zur Seite bewegen, er wird dadurch menschlicher.

Dadurch hat das Publikum mehr Freude am Puppenspiel und ebenso derjenige, der die Puppe spielt - eine Rückkopplung vom Publikum zur Puppe, von der Puppe zum Puppenspieler. Zum Schluß möchte Herr Huang sagen, daß es nur einen einzigen Grund für technischen Fortschritt für Marionetten gibt - die Puppen lebendiger zu machen.

Lattewitz
Ich denke, das war für die meisten von uns neu, was sich aus der alten Tradition in China zu entwickeln beginnt. Albrecht Roser sagte vorhin schon, daß der Kern immer auch etwas mit der Technik zu tun hat. Wo liegt denn für CLOWN GUSTAF UND SEIN ENSEMBLE der Kern der Faszination, verglichen mit dem, was wir eben von den chinesischen Marionetten gehört haben?

Roser
Er liegt selbstverständlich in demselben Ziel, das eben von unserem chinesischen Meister Huang genannt wurde, nämlich das Lebendigmachen einer künstlichen Figur auf der Bühne. Der Puppenspieler kann die Puppe nicht wirklich lebendig machen. Er kann nur so spielen mit der Puppe, daß das Publikum die Puppe für sich lebendig macht. Und dazu ist für uns eine ausgefeilte Technik notwendig. Wir haben weder diese Tradition noch die Zeit, um diesen langen Weg wie die chinesischen Puppenspieler zurückzulegen. Bis sie mit 20 Fäden an einem schlichten Stück Holz so spielen werden wie das Meister Huang tut, dauert es uns einfach zu lange. Man muß diesen Weg abkürzen durch eine ausgefeilte Technik. Ich selber habe diese Technik bei Fritz Herbert Bross gelernt. Er hat seine Ingenieurswissenschaft eingebracht und hat dadurch ermöglicht, daß man die Marionette so bauen kann, daß sie ohne weiteres bewegt werden kann. Bis zur Darstellung ist dann noch ein weiter Weg. Aber jedenfalls, das ganz schlichte Bedienen einer Marionette, dieses Instruments, kann durch die Technik wesentlich erleichtert werden.

Lattewitz
Frank Soehnle, Sie vertreten hier auf diesem Podium die jüngste Generation. Es ist nicht zu übersehen, daß die Faszination der Marionette, so groß sie beim Publikum sein mag, offenbar bei den Puppenspielern selbst doch eher nachgelassen hat. Sie gehören zu denen, die das noch beherrschen, aber das kann man wahrscheinlich nicht mehr generell für junge Puppenspieler sagen. Woran liegt es denn, daß offenbar von dieser Faszination so wenig übergeht auf den Nachwuchs? Hat das was zu tun mit dem, jetzt greife ich mal provokant das Stichwort von Herrn Jurkowski auf, mit dem "sind wir ein bißchen zu faul, um uns da reinzustürzen?"

Soehnle
Ich glaube nicht, daß die Puppenspieler mehr oder weniger faul waren, als heute. Ich finde, daß das eine sehr lustige Idee ist. Ich möchte Herrn Roccoberton fragen, wie sieht das in Amerika aus? Ich glaube, das hängt ganz stark damit zusammen, daß sich im ganzen Puppentheaterbereich das Ganze mehr öffnet und Mensch und Puppe immer mehr Hauptthema werden und dadurch die Marionette ein bißchen in den Hintergrund gedrängt wird. Dafür gibt es beim Marionettenspiel weniger Möglichkeiten, theatralisch gesehen und es ist sehr kompliziert. Wenn ich an meine Studienjahre zurückdenke, da hat sich vielleicht die Hälfte für Marionetten interessiert, die anderen überhaupt nicht.

Lattewitz
Würden Sie denn sagen, daß das Interesse und die Auseinandersetzung mit der Marionette, daß sie von Vorteil ist? Würden Sie ungern auf die Erfahrung mit der Marionette verzichten, weil damit eine Art basic-skills vermittelt wird, Grundsätzliches im Umgang mit Material?



Soehnle
Ich finde die Marionette als Ausdrucksmittel wahnsinnig wichtig, weil sie für mich das lyrische, das poetische Mittel im Figurentheaterbereich ist. Es gab schon immer einen großen Unterschied zwischen den Handpuppenspielern und den Marionettenspielern - Herr Jurkowski kann da tolle Geschichten erzählen. Ich finde die Erfahrung, was das Marionettenspiel ausdrücken kann, etwas ganz wesentliches.

Lattewitz
Sie haben schon Herrn Bart Roccoberton angesprochen. Ich möchte Ihre Frage noch vertiefen, wie ist das denn in Amerika? Da gibt es weder eine 2000jährige und auch keine vielleicht 150jährige Tradition mit den Marionetten und Sie sind so etwas wie ein Bindeglied, ein Pendler zwischen den unterschiedlichen Welten von Amerika, Europa und China. Was macht für Sie diese Faszination aus bzw. auch für die Studierenden in Ihrer Universität?

Roccoberton
Die Geschichte des amerikanischen Puppenspiels ist wesentlich europäisch. Unter den Urvölkern Amerikas hat es eine Tradition gegeben vom Spiel mit Masken und Puppen, aber so, wie vieles andere dieser Kultur wurde es entweder eliminiert oder zerstört. Auch im 18. Jahrhundert gab es geschichtliche Erwähnungen von englischen Puppenspielern, die koloniale Staaten besucht haben mit ihrem Puppenspiel. Erst 1870 etwa begann das eigene amerikanische Puppenspiel. Zu dieser Zeit kam ein Engländer namens John Bellet mit seinem Puppenspiel nach Amerika. Er hatte einige Spieler mitgebracht aus England, aber hatte auch einige Amerikaner engagiert zum Mitspielen. Diese Vorstellungen beinhalteten Märchen, Verwandlungs- und Trick-Puppen und Fantastische Puppen. Das wurde dann nachgeahmt von den Amerikanern mit denen er zusammengearbeitet hat. Die echte Dynamik im amerikanischen Puppenspiel kam durch einen Deutschen. Ein Mann namens Toni Sarg. Toni sah ein Puppenspiel in London und war so fasziniert davon, daß er mehr darüber wissen wollte. Zu der Zeit hatte man ein Bühnentuch vor die Bühne gehängt, damit das Publikum nichts von der Technik sehen konnte. Toni war Zeichner und saß deswegen in der ersten Reihe um herauszufinden, wie das alles funktionierte. Später zog er in die USA und fing an, mit Puppen zu spielen. Während des ersten Weltkriegs waren Spiele am Broadway eines Papa Schmidt aus Deutschland geplant, aber das hat nicht geklappt. Aber er wurde von einem Produzenten gebeten, in der Broadway-Aufführung eines Musicals zu spielen.
Das war der Beginn des modernen amerikanischen Puppenspiels. Marionetten waren the voice of American Puppetry bis 1950, als das Fernsehen populär wurde. Dann wurden Handpuppen im Fernsehen wichtiger als Marionetten. Vielleicht haben Sie von den Muppets gehört. Jim Henson hat das Fernsehen in der ganzen Welt erobert. Aber zurück zur Frage von Frau Lattewitz. Jim Henson war ein sehr bescheidener Mensch. In den frühen 70er Jahren, als ich als Puppenspieler anfing, kam er zu einem Treffen der Puppeteers of America und bedankte sich. Er fühle sich sehr geehrt, daß seine Arbeit nachgeahmt werde. Aber darüber hinaus gäbe es noch vieles. "Seht Euch das japanische Bunraku an, die indonesischen Stab- und Schattenpuppen, die indische Fadenpuppe, das italienische Maskentheater, englische Handpuppen und Albecht Roser." Das Geschenk Jim Hensons war, daß er uns anregte, uns in vielen Richtungen umzuschauen und uns teilweise diese sehr unterschiedlichen Traditionen anzueignen. Ich habe Gelegenheit, vieles kennenzulernen, was ich an meine Studenten weitergebe. Ich ermutige sie, ihre eigene Stimme zu finden. Um nicht das Gleiche, wie jedermann zu machen, müssen sie sehr viel Unterschiedliches kennen. Sie arbeiten mit Handpuppen, Schatten- und Stabpuppen, Masken und Marionetten. In diesem Jahrhundert war China fast ganz für uns verschlossen. Erst im letzten Jahrzehnt sind die Türen aufgegangen und ein sehr reger Austausch zwischen Ost und West findet statt. Ich hatte das Privileg mit Stabpuppen und Schattenpuppen zu arbeiten und auch mit Mr. Huang. Der Stil des chinesischen Puppenspiels wird langsam ein Teil der amerikanischen Stimme des Puppenspiels werden. Ich erwarte nicht, daß jemals einer meiner Studenten bei einer chinesischen Puppenspieltruppe arbeiten wird. Die Hingabe und der benötigte Zeitaufwand, eine chinesische Puppe zu meistern ist nicht Teil des amerikanischen Weges. Aber meine Studenten haben großen Respekt vor diesem hochrangigen Puppenspiel. Diese verschiedenen Stimmen haben alle einen Anteil an dem amerikanischen Puppenspiel und jetzt auch immer mehr das Chinesische Puppenspiel. Und um mit einem Satz zu antworten: Ja das schließt die Marionetten mit ein.

Lattewitz
Ich würde doch noch gerne wissen, da Sie einerseits mit chinesischen Puppenspielern zusammenarbeiten, von ihnen lernen und andererseits - wie das ja schon mehrfach der Fall war - Albrecht Roser zu Gast haben für eine Sommerakademie, ist das nur gegenseitiges Lernen oder erwächst daraus auch das, was wir hier auch zum Thema machen wollen, nämlich die Innovation?
Kommt etwas Neues?


Roccoberton
Ja, eine Innovation! Bei der Arbeit mit chinesischen - allerdings mehr mit Stabpuppen als mit Marionetten - lernten wir eine einzigartige Technik kennen, wie man die Hand bewegt. Die gleichen Studenten, die diese Methode erlernten, haben auch in unserer Sommerakademie mit Albrecht Roser gearbeitet. Sie haben eine ganze Palette zur Auswahl. Was ich interessant finde, daß ich von anderen Truppen gefragt werde: was ist es, was Sie anders machen? Diese Grazie in der Bewegung der amerikanischen Puppen, war vorher nicht da. Das entstand dank unserer Beziehung mit China. Die besondere Beziehung von Puppe und Spieler ist dank Albrecht Rosers Arbeit zustande gekommen. Diese Mischung verschiedener Elemente macht die Sache sehr interessant.

Lattewitz
Ich möchte mich jetzt mit der gleichen Frage sowohl an Frank Soehnle als auch an Albrecht Roser wenden. Innovationen im Puppenspiel vor allem im Hinblick auf die Marionette.
Frank Soehnle, sehen Sie eine Innovation für die Marionette?

Soehnle
Sie meinen, ob die Marionette die Möglichkeit hat innovativ zu sein? Ja absolut! Dafür gibt es auch großartige Beispiele. Z.B. Steven Mottham aus Großbritannien, der ganz exzellentes Marionettentheater macht.

Lattewitz
Was muß denn passieren, daß bei uns wieder das Interesse dafür verstärkt wird? Beim Publikum ist das sicher da, denke ich. Aber nicht bei denen, die es machen.

Soehnle
Ich würde das gar nicht so schwarz-weiß darstellen. Auf allen Festivals von Figurentheatern wird natürlich die Bandbreite betont, was ein bißchen eine Modeerscheinung ist, aber es gibt überall Marionetten und es gibt Marionettenspieler, es sind nicht viele, aber es ist nicht so, daß dies eine Form einer vom Aussterben bedrohten Kunst wäre.

Lattewitz
Die Befürchtung hat zumindest Albrecht Roser hin und wieder, da es doch eine Kunst ist, die sich eher auf dem absteigendem Ast befinden könnte, beim Nachwuchs. Was muß passieren?

Roser
Das bezieht sich im Grunde genommen auf die erkannte, unglaubliche Mühe, wirklich gute, am Faden geführte Darsteller zu konstruieren und zu schaffen, um sie dann dem Publikum zu zeigen. Und es bezieht sich auf die Schnelllebigkeit der Zeit, die uns dazu verführt, daß wir versuchen immer einfachere Formen der Führungstechnik zu finden, um vielleicht dadurch den Zugang zu der Marionette etwas zu erleichtern. Denn von unserer ganzen Ausbildung her, ist Frank Soehnle ein besonderer Fall. Er gehört zu den ganz wenigen, der sich mit der Marionette befaßt hat und das aber schon mit 11 oder 12 Jahren. Er war im Grunde genommen fast der Einzige, der die Voraussetzung für die Ausbildung wirklich mitgebracht hat. Denn eigentlich hatten wir uns bei Gründung der Ausbildung überlegt, daß jeder, der sich bewirbt, schon ein Instrument spielen können muß, d.h. eine Puppenart in der Darstellung beherrschen sollte, zumindest handwerklich. Künstlerische und innovative Impulse können dann im Studium mit diesem vorhandenen Stand besser vermittelt werden. Daß diese handwerklichen Fertigkeiten vor dem Studium erworben werden, ist heute noch nicht durchzusetzen. Ich versuche trotzdem in Kursen das Wissen und neue Entwicklungen zu vermitteln und Möglichkeiten des Einsteigens. Diese Darstellungsform erachten wir nach wie vor für eine wichtige und selbstverständlich zukunftsträchtige Möglichkeit des darstellenden Künstlers.

Lattewitz
Meiner Meinung nach kann nicht jeder eine Stradivari haben, denn der Gustaf war ja so etwas wie eine Stradivari, ein Instrument der ganz besonderen Art. Was müßte man denn mitbringen, um sich in die Marionette hineinfinden zu können? Heißt das, daß man sich wie Frank Soehnle schon mit 11 Jahren dafür interessieren muß, oder gibt es da auch noch andere Möglichkeiten?

Roser
Im Grunde genommen ja. Ich glaube, daß es genau wie bei einem Musikinstrument, bei der Marionette wichtig ist, daß man mit 10, 11, 12 Jahren anfängt. Ich erfahre das auch von unseren chinesischen Berufskollegen, daß sie sehr früh anfangen.
Mr. Huang hat mit 14 Jahren angefangen, sein Mitspieler hat mit 10 Jahren angefangen mit Puppen zu spielen. Und bei der Marionette ist es tatsächlich auch wie bei einem Musikinstrument, daß eine sehr lange Gewöhnung mit Sicherheit förderlich ist. Muß nicht sein, denn ich selber bin mit 29 Jahren erst auf die Marionette gestoßen und habe dann durch intensive Arbeit allerdings, durch leidenschaftliche Arbeit einiges erreicht.

Lattewitz
Ja und auch immer natürlich getreten von GUSTAF, es ging ja gar nicht anders.

Roser
Ja, Clown Gustaf war natürlich ein Glücksfall, es war so etwas wie ein alter ego. Es stellte sich dann langsam heraus, daß im Grunde genommen die Puppe den Menschen führt. Frank hat in seinem Interview sehr gut dargestellt, daß ich in der Hochschule versucht habe zu vermitteln, daß man aufmerksam zuhören oder fühlen muß, was die Puppe kann und will. "Will" ist ein bißchen übertrieben, aber was sie kann, ist auch ihr Wille. Und darauf muß der Spieler Rücksicht nehmen, das muß er erkunden, erobern, um wirklich mit der Puppe umgehen zu können und die Puppe wirksam in einem Theater einsetzen zu können.

Lattewitz
Wir sind jetzt um den ganzen Globus gewandert, wir waren in China, wir waren in Amerika, und sind wieder in Europa und damit würde ich gerne noch mal zu Herrn Jurkowski kommen. Sie haben uns vorhin einen schönen Abriß der Vergangenheit und des gegenwärtigen Stands gegeben. Wieviel Zukunft hat denn die Marionette grundsätzlich und wie viel Innovation trägt sie in sich? Kommt da noch etwas Neues aus der Marionette?

Jurkowski
Ja, das ist eine schwere Frage, weil ich dafür nicht der richtige Adressat bin.

Lattewitz
Aber Sie beobachten es?

Jurkowski
Ja, ich werde trotzdem antworten. Sehen Sie, Innovationen das ist etwas typisches für Europa, für die europäische Kultur. Wir müssen Neues haben, Innovationen, immer neu! Wir denken nicht über Perfektion nach, nur über Neues im Theater und in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Das ist ein großer Unterschied zu früher. Damals war es eine Innovation, eine neue Ansicht zu haben. Was haben wir mit diesen Innovationen erreicht? Das ist ganz interessant! Am Anfang des 20. Jahrhunderts sagten die Theoretiker und Praktiker, wir haben genug von Literatur im Theater, wir müssen uns von der Literatur befreien, wir müssen ein wirkliches Theater machen, ein theatralisches Theater. Und so suchten im 20. Jahrhundert die Künstler nach Innovationen und suchten Theatralisches, und dabei haben sie die "Message" vergessen.
Und nun stehen wir vor der Frage, welchem Weg sollen wir weitergehen?
Wollen wir Innovationen, um neue Techniken, neues Material zu zeigen, oder sollten wir zurückgehen, und nach ästhetischen und menschlichen Qualitäten und Werten Ausschau zu halten. Für mich als Theatertheoretiker ist es ein großes Problem, etwas darüber zu sagen. Meine Beobachtungen der Arbeiten z.B. meiner polnischen, englischen und französischen Studenten begeistern mich nicht besonders. Ich sehe die Vorstellungen, die originell sind vom ästhetischen Standpunkt aus, aber nicht vom menschlichen Standpunkt. Manchmal denke ich, wir sollten den jungen Leuten auf unseren Schulen auf die Suche nach menschlichen Werten schicken. Ästhetik ist wichtig, aber die anderen, menschlichen Werte sind vielleicht wichtiger. Für mich sind diese Innovationen ein großes Fragezeichen.

Lattewitz
Das war noch mal ein kritischer Blick auf die Entwicklungen.
Frank Soehnle: Wird so etwas diskutiert, wie ist denn der Stand der Auseinandersetzung um solche Dinge? Ist alles wunderbar ästhetisch und letzten Endes ohne Inhalt? Ist das ein Thema?

Soehnle
Ich denke es ist immer Thema im Theater, aber generell würde ich jetzt mal sagen, ich würde das Wort Innovation nicht auf die Form beziehen, sondern auf beides, auf Form und Inhalt. Heißt denn innovativ, daß es etwas Formschönes aber Sinnentleertes ist? Unter Innovation würde ich mir vorstellen, daß es inhaltlich, wie formal stimmt, wenn es etwas Neues ist. Und die andere Frage, die Sie mir stellen, ist eine generelle Theaterfrage. Es wird immer vorgeworfen, daß es nach dem großen dichterischen Theater jetzt um nichts mehr gehen würde. Das finde ich gar nicht. Es gibt wunderbare junge Dramatiker, die eben anders schreiben, aber es ist auch eine andere Zeit, da muß man auch anders schreiben und es gibt andere Themen. Es gibt eben sinnentleerte Dinge und Stücke.

Lattewitz
Noch mal zu Ihnen Bart und zu diesem Triangel zwischen Amerika, Europa und dem ostasiatischen Raum, vor allem China. Stößt diese Diskussion bei Ihnen überhaupt auf Interesse um innovatives Theater, wie wir sie in den letzten 10 Minuten geführt haben? Diese Diskussion, die wir in Europa so heftig führen, daß etwas möglicherweise formal schön, aber inhaltsleer wird, gibt es die bei Ihnen auch?

Roccoberton
Ja natürlich, die jungen Studenten mit denen ich zusammenarbeite, suchen nach ihrem Platz innerhalb der Gesellschaft. Es gibt ein breites Spektrum von unterschiedlichen Vorstellungen, solche, die nur sensationell sein wollen und andere, die ergreifen und das Herz rühren. Ich kann unsere Darstellungsformen nicht nur von einer Richtung aus sehen. Meine Studenten sind sehr unterschiedlich. Ein Schüler, der mich mit einem einfachen Stück Plastik zu Tränen rühren kann, versteht sehr gut, menschliche Inhalte zu vermitteln. Diese Diskussion ist sehr wichtig für unsere Arbeit, aber ich muß dazu sagen, daß diejenigen, die versuchen eine Sprache zu finden, dies für sich selbst tun. Wenn sie ein Publikum finden, wird das Theater weiterhin leben und wenn nicht dann Tschüß.

Roser
Wir haben viel diskutiert über Tradition und sogenannter Innovation, das ist bereits eine Wertung. Was bedeutet die Tradition und soll man sie verlassen? Das ist natürlich auch zusammen mit den chinesischen Kollegen eine wichtige Diskussion. Ich habe ein gutes, anschauliches Beispiel gefunden. Wenn man sich bewegen will, wenn man geht, muß man immer einen Fuß auf dem Boden lassen, damit man den anderen anheben und nach vorne setzen kann. Wenn man beide Beine anhebt, fällt man auf die Nase. Wenn man stehen bleibt, läuft man Gefahr, daß alle andern gehen und man selber weit hinten bleibt. Man hofft, daß sie zurückkommen - eine Hoffnung, von der man nicht weiß, ob sie irgendwann einmal Realität wird. Wir müssen uns alle bewegen, zusammen mit unseren Zeitgenossen, auch im Theater. Aber ich glaube, daß wir einen Fuß auf dem Boden lassen müssen, um einen nach vorne setzen zu können, damit wir nicht auf die Nase fallen.

Lattewitz
Ich möchte gerne etwas aufgreifen vom vergangenem Samstag, als wir im Staatstheater die Vorstellung von CLOWN GUSTAF UND SEINEM ENSEMBLE gesehen haben. Da wurden zwei ganz unterschiedliche Wünsche ausgesprochen. Der eine Wunsch hieß, daß nach Albrecht Roser CLOWN GUSTAF nie wieder gespielt werden dürfe, daß Clown Gustaf ins Museum gehöre als unverzichtbarer Bestandteil einer wunderbaren Kultur. Und der andere Wunsch hieß, Albrecht Roser möge sich einen Eleven heranziehen, es ist noch viel Zeit dafür, davon gehe ich einfach aus, so daß Clown Gustaf weiter lebt auf der Bühne. Das sind zwei sehr extreme Möglichkeiten.

Roccoberton
Ich habe sehr unterschiedliche Gefühle. Es kommt darauf an, was man unter einer Puppe versteht. In unserer Sommer-Akademie haben wir viel darüber diskutiert, wodurch ich heute eine andere Definition für die Puppe habe. Eine Puppe ist eine leere Hülle, für die Seele des Publikums und des Puppenspielers. Mit anderen Worten das Publikum ist genauso verantwortlich für das Leben dieser Puppe, wie der Puppenspieler selbst. Abgesehen von Gustaf, für mich. Das sage ich vielleicht deshalb, weil ich als Zuschauer meine Seele in Gustaf investiert habe. Vom ersten Moment an, als ich Gustaf zum ersten Mal gesehen habe, konnte ich sehen, daß er denkt. Ich war mit Albrecht Roser bei Dutzenden von Vorstellungen und habe gesehen, wie er die Puppe aus dem Koffer herausnahm. Sicherlich hat der Künstler Respekt vor seinem Werkzeug. Aber warum sieht diese Puppe mich an, wenn sie aus dem Koffer kommt? Deswegen ist diese Frage für mich sehr kompliziert. Für mich ist eine Puppe ein Werkzeug für einen Ausdruck. Deswegen sollte man ganz nüchtern sagen, jemand sollte lernen, dieses Werkzeug zu spielen. Aber ich weiß nicht, ob jemand den Anteil von Albrecht Roser in der Puppe wiederholen könnte.

Lattewitz
Er will sich nicht festlegen heißt das mit anderen Worten.
Simon Wong möchte etwas über das Verhältnis zwischen Schüler und Meister sagen.

Simon Wong
Ich möchte die chinesische Sehweise erklären. Wir haben eine ununterbrochene Tradition von 2000 Jahren in China. Wie Mr. Huang muß jeder acht Jahre studieren, dann ist er erst ein Anfänger und mindestens 20 Jahre, um ein Meister zu werden.
Aber was ist in China ein Meister? Mr. Huang hat alles von seinem Lehrer gelernt. In dem Moment, als er etwas Neues mit der Puppe machen konnte, wurde er ein Meister. All die Jahre davor hat ein Meister und viele andere vor ihm die Puppen weiterentwickelt. "Der junge Mönch" bleibt so immer zeitgemäß als ein lebendiger Teil der Kultur. Man sieht Herrn Huang spielen, aber man sieht auch alle Meister vor ihm. Das ist die chinesische Sehweise. Ich weiß nicht, ob das auch für Albrecht Roser gilt, aber ich hoffe, daß dieser Meister wiedergeboren wird, damit ein weiterer Albrecht Roser kommt, um weiterhin mit Gustaf zu spielen.

Lattewitz
Frank Soehnle, wo wollen Sie CLOWN GUSTAF sehen, im Museum, oder auf einer Bühne?

Soehnle
Also ich sehe das ganz anders, als die Chinesen. Für mich ist die Figur, die der Figurenspieler herstellt, ein Teil von ihm d.h. der, der sie gebaut hat und führt, gehört zu der Figur dazu. Da jetzt zu sagen, es handelt sich nur um ein Instrument und irgendwer, der virtuos spielt, kann es weiterführen. Ich glaube, da übersieht man einen ganz wesentlichen Teil, der zwischen Figurenbauer, Figurenspieler und Figur entsteht. Also es würde mir natürlich auch wehtun, GUSTAF hinter Glas im Museum zu sehen, aber ich glaube, das gehört zusammen, das ist eine Einheit. Ich kann es mir zumindest nicht vorstellen.


Lattewitz
Die gleiche und die letzte Frage, geht selbstverständlich an Albrecht Roser selbst. Ich bin gespannt, ob ich heute eine andere Antwort bekomme. Wo gehört Gustaf hin in 50 Jahren? Wird er gespielt oder steht er im Museum?

Roser
Ich muß ehrlich sagen, daß ich noch keine Antwort habe. Ich spiele, solange ich stehen kann und hoffe, daß einer meiner fünf Enkel vielleicht Bahn einsteigt. Ob das gelingt? Ich bin natürlich auch teilweise Franks Meinung. Ich weiß nicht, was mit Gustaf passiert.
Ich bereite allerdings auch ein Museum vor.
Außerdem plane ich meine Wiedergeburt und dann kann man sehen ob's hinkommt.

Lattewitz
Ich denke wir haben einen ganz spannenden Bogen geschlagen und ich bedanke mich bei meinen Gästen auf dem Podium, die es mir so leicht gemacht haben.





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