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Puppen, Menschen & Objekte
Theaterzeitschrift des VDP
Nr. 86, 2002/1

GUSTAF

Mediale Konsequenzen

Von Prof. Albrecht Roser
Puppenspieler



50 Jahre lang spielt Gustaf mit Roser, spielt der Roser mit Gustaf: wie geht das, wie ist das möglich, daß ein erwachsener Mensch 50 Jahre lang mit einer Marionette spielt? Nicht nur mit einer Marionette freilich, aber hier soll die Rede sein von der ersten Marionette mit der ich gespielt habe und noch spiele, von den Anfängen Hintergründen und Gedanken über das Phänomen "Gustaf". Die Entstehung ist ausreichend beschrieben, die Faszination ungemindert seit dieser ersten Begegnung mit Marionetten, wie ich sie in meinem ersten Buch beschrieben habe.

Ungemindert ist ebenso die Intensität der Ausstrahlung, die von der Marionette "Gustaf" in beiden Richtungen ausgeht, denn wie das jeweilige Publikum als auch mich als Spieler vermag diese merkwürdige Kreation oder Schöpfung zu bewegen.
Viele Gedanken resultieren aus der Initialzündung, dem Beginn des Spiels, das unendlich zwangsläufig war und ebenso schwierig, weil aus dem introvertierten und hauptsächlich bildnerisch interessierten, fast dreißigjährigen übriggebliebenen Nachkriegsmenschen auf der Suche nach seinem Beruf der Puppenspieler wurde. Es scheint fast ein Zufall, wenn man mit dem Vokabular der Kunstschaffenden operiert, ein Zufall, der sich als Einfall realisierte. Er wurde bewältigt, 50 Jahre lang, denn immer noch ist die Marionette Gustaf gut für Überraschungen, die sich wie Zu- oder Einfälle im Spiel anbieten und eingeordnet werden wollen.

Die Inspiration.

Der Wurf, der mir mit Clown Gustaf gelang, hat meinen Werdegang bestimmt. Die gegenseitige Inspiration im Spiel ist intensiver geworden, selbstverständlicher und wir werden uns auch äußerlich ähnlicher. Mein ganzes Leben mußte sich dieser Bestimmung unterordnen, auch die privaten Verhältnisse. Am Anfang habe ich viele verschiedene Anregungen aufgegriffen, wie die intensive Zeit bei Albrecht Leo Merz, der meine Beziehung zum Material beeinflußt hat. Bei meinem ausgezeichneten Lehrmeister im Marionettenbau Fritz Herbert Bross habe ich die fruchtbarsten drei Monate meiner Lehrzeit verbracht. Von ihm habe ich mein Rüstzeug im bildnerischen, handwerklichen und vor allem im technischen Fachgebiet des Marionettenbaus bezogen. Die wesentliche Voraussetzung, daß ich mit Solomarionetten spielen kann, ist das von ihm gefundene Marionettenbausystem, das er mit "künstlerisch-technischer Einheit" bezeichnete.
Das Spiel wird von der Schwerkraft bestimmt und ermöglicht organische Bewegungsabläufe. Kleist hat diese Möglichkeit in seinem berühmten Essay "Über das Marionettentheater" aus philosophischer Sicht beschrieben: die Bewegung aus dem Schwerpunkt heraus, vollendet durch die Reinheit = Unbewußtheit des Impulses. Bross' Auffassungen kam meinen eigenen Intentionen entgegen, sie wurden erst durch unser Aufeinandertreffen realisierbar. Das Bross'sche Bauprinzip ist die Grundlage meiner Weiterentwicklungen und Findungen. Aus dieser Kenntnis resultiert, daß komplizierte Bewegungen auf ihren einfachsten technischen Nenner in der Handhabung (im Spielkreuz) gebracht werden. Dadurch wird die Manipulation schlafwandlerisch sicher, die volle Konzentration fließt in die Darstellung. Der Puppenspieler muß nicht mehr ein Leben lang üben, um die unkontrollierten Bewegungen seiner Marionette in den Griff zu bekommen. Meine Marionetten haben kaum noch unkontrollierte Bewegungen, weil die kinetischen Erkenntnisse im Bau umgesetzt sind.

Alle Bewegungen sind wiederholbar, aber nicht im technisch-mechanischem Sinn, sondern durch ein organisches Zusammenwirken aller Teile. Sie befinden sich in Balance, weil sie alle einem Bewegungsschwerpunkt zugeordnet sind. Es fasziniert mich mehr denn je, diesen Bedingtheiten nachzugehen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und einzusetzen, immer im Hinblick auf ihre Bühnenwirksamkeit und ihre künstlerische Aussage.

Das Spiel mit der Schwerkraft heißt auch das Spiel mit dem Pendel. Er fällt immer wieder in seinen Schwerpunkt zurück - eine wesentliche Bewegungsart der Marionette. Damit verbunden ist die Balance und das Maß finden und halten. Die Marionette verweigert sich allen Extremen. Überläßt man sich dem Spiel mit der Schwerkraft, dem Spiel mit der Balance vollkommen, verliert das Gesetz, dem wir alle unterworfen sind, seine Schwere, seine Zwanghaftigkeit - "man segelt mit dem Wind" um es bildhaft zu schildern.

Das Instrument.

Wesentlich ist dabei die Qualität des Instruments. Bildnerische Gestaltung und Technik müssen vorzüglich aufeinander abgestimmt sein.
Beim Schreiben dieses Artikels kam ich zu der für meine Arbeitsweise treffenden Formulierung "meditativer Umgang mit dem Material". Das setzt eine genaue Beobachtung voraus, die so intensiv werden muß, daß sie in den Bereich der Wahr-nehmung, der Meditation übergeht. Die Möglichkeiten des Materials treten voll in Erscheinung und werden während des bildnerischen Vorgangs ständig intuitiv genutzt. Das partnerschaftliche Begreifen des Materials korrigiert willentliche, selbstbezogene Erkenntnisse und Intentionen und bringt eine große, oft enorme Bereicherung der Ergebnisse. Es erschwert die eigene Arroganz und Eitelkeit, weil das Gelingen als etwas Gewachsenes erlebt wird, nicht als etwas Produziertes.
Es mag eine Eigenart meines Spiels sein, daß bildnerische und darstellerische Komponenten nach den gleichen Regeln geschaffen wurden und werden. War das am Anfang noch schier unbewußt, komme ich im Alter immer mehr dazu, nach den Voraussetzungen zu fragen, die zu dieser Merkwürdigkeit geführt haben.

Dabei gilt für den Puppenbauer einerseits die Gesetzmäßigkeit der Theatermaske, die nicht beliebig übertreiben oder untertreiben darf. Karikatur trägt nur für kurze Zeit in der Darstellung. Eine Offenheit des Ausdrucks erlaubt eine Ausdeutung nach vielen Richtungen.

Der Anspruch.

Der künstlerische Anspruch, der hier gestellt wird, scheint hoch, er ist bei Musikern und Musikinstrumenten aber eine Selbstverständlichkeit. Eine gute Geige tönt nur dann in all ihrer Schönheit, wenn der richtige Bogen über gut klingende Saiten gestrichen wird, wenn die Geige nach allen Regeln der Kunst gebaut wurde und der Spieler nicht nur technisch und musikalisch sein Bestes gibt, sondern die eigene Stimme des Instruments hörbar machen kann. In der Kostbarkeit des Instruments, in der Beherrschung einer umfassenden Kenntnis, Fähigkeit und Kunst sehe ich die Zukunft der Marionette angesiedelt. Da das primäre Ausdrucksmittel der Marionette die Bewegung ist, die mit und gegen die Schwerkraft entsteht, mit ihr gespielt wird, nähert sich die Marionette von ihrem Wesen her eher dem Tanz, der Pantomime, der Musik oder der Bewegungskunst als dem Drama, das ohne Wort nicht existiert.
Das Auge des Regisseurs entscheidet, was und wann theatralische Wirkung hat und ordnet den Moment in den Gesamtfluß der Darstellung so ein, daß der bestmögliche Ablauf des darstellenden Geschehens erreicht wird. Der Einzelspieler ist sein eigener Regisseur, er studiert sein Instrument im Spiegel.
Die Hände des Spielers lernen und machen sich quasi selbständig oder unabhängig im Impuls, reagieren aber seismographisch auf Korrekturen, die durch das Auge und des Spielers erkannt und als Regieanweisungen weitergegeben werden. Das steht hier nüchtern und trocken geschrieben, erinnert an Rezept und mechanisches Tun. Aber in Wirklichkeit muß alles Handeln in absoluter Hingabe und Begeisterung stattfinden, sonst wird leeres Stroh gedroschen und jede Anstrengung verpufft in der Vorstellung. Konzentration und Bewußtseinsverlagerung in die Puppe sind die Begriffe, die für die Intensität der Darstellung eingesetzt werden sollen.
Nur mit einer meditativen Konzentration kann Wesentliches entstehen. Was Konzentration ist, kann mit Worten nur schwer erfaßt werden. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mir bewußt zu werden, welche Rolle die Konzentration spielt in meiner eigenen Arbeit. Herrigels Essay über "Zen in der Kunst des Bogenschießens" hat mir sehr geholfen, obwohl auch er eigentlich nur die Auswirkung der Konzentration beschreibt.

Das Theatralische.

Wenn aber alles zusammenstimmt, eigene Kondition, Intensität, Tageszeit, Raum und das Publikum sich erreichen läßt, geschieht Theater. Nur wenn die Puppe tragender Bestandteil der Darstellung ist, entsteht das unverwechselbare, magische Ereignis, das Puppentheater genannt wird. Das ist etwas Wunderbares.
In unserer technisch geprägten Zeit ergibt sich ein Reigen von Schwingungen, die nicht zu benennen sind und ins Unbewußte von Darsteller und Zuschauenden reicht. Das Erlebnis ist für beide Teile beglückend, tief und nachhaltig. Nicht selten sprechen mich nach der Vorstellung Leute an, die sich an eine meiner Soloabende vor 30 oder mehr Jahren erinnern: Momente des Staunens und der Freude für mich.
Nur aus zwei gegensätzlichen Komponenten kann Neues entstehen. Tod und Leben bedingen einander genau so bei der Marionette. In jeder Vorstellung hängt "lebloses Material" am Gestell bis zu dem Moment, wo das potentielle Leben durch den Spieler erweckt bzw. vom Zuschauer das Spiel als Leben der Marionette erlebt wird. Die Magie des Puppenspiels ist durch nichts zu ersetzen. Der Zuschauer erlebt für sich und durch sich selbst die Verwandlung von totem Material in Leben.

Was in diesem Artikel angesprochen wurde, soll in dem angekündigten Buch "Schwerpunkt - Marionetten, Bau und Spiel" in ganzer Breite ausgeführt werden, im Bestreben, etwas von dem Erreichten, von Gelerntem und Erfahrenen, von Wegen zu persönlicher Erfüllung weiterzugeben.

Ich schließe meine Ausführungen in diesem Sinn: dem immerwährenden Gefühl von Dankbarkeit dem Mann gegenüber, der mich in die Geheimnisse des Marionettenbaus mit dem Besten seines eigenen Wissens unterrichtet hat. Ein erfülltes, daher glückliches Leben wurde daraus, 50 Jahre Spiel mit GUSTAF UND SEINEM ENSEMBLE.






Ein halbes Jahrhundert am Faden



-Albrecht Roser feierte mit Gustaf Bühnenjubiläum-

von Melanie Lattewitz
Journalistin

Er muss sich seinerzeit selbst vorausgeahnt haben, damals, als er 1951 Gustaf gebar, seinen dreißig Jahre jüngeren Zwilling, seinen Herausforderer, vielleicht sogar seinen Bezwinger, mit Sicherheit aber sein alter ego. Das ganzseitige Foto in der Jubiläumsfestschrift belegt das auf verblüffende Weise: Albrecht Roser und sein Gustaf sind sich im Lauf der Jahrzehnte - abgesehen von einem Haarbüschel über der hohen Stirn, das Roser nicht mehr hat, und einer Brille, die wiederum Gustaf fehlt, auf verblüffende Weise immer ähnlicher geworden. Hinter dieser Kongenialität des Erstgeborenen mit seinem Vater sind alle anderen roserschen Marionetten immer zurückgetreten, waren und blieben sein Ensemble. Keine von ihnen hätte es je gewagt, Gustaf mit einem schnöden Linsengericht um sein Erstgeburtsrecht zu betrügen, nicht einmal die so sanft wortgewaltig auch schon etliche Jahre am endlosen Streifenschal strickende "Oma aus Stuttgart".

Und so war es denn auch Gustaf, dem im November letzten Jahres in Stuttgart das 50jährige Bühnenjubiläum gewidmet war. Sein Ensemble und dessen Schöpfer Albrecht Roser durften selbstverständlich dabei sein. Mit einem Programm, das sich über eine gute Woche erstreckte, und begleitet von einer exzellent gemachten Festschrift: "An seidenen Fäden - Clown Gustaf ist 50!" Natürlich gehört es bei Jubiläen dieser Art zum guten Ton, dass über den Jubilar nur Gutes gesagt wird. Weshalb man immer genau hinsehen und nachspüren muss, ob dieses Gute wirklich gut oder eben doch nur gut gemeint ist. Nur allzu oft gerinnen bekanntlich die Ehrungen der Altgedienten zur schalen Reverenz an längst Vergangenes, zum zwar respektvollen, aber für den Jubilar letztlich demütigenden Abgesang, zur bloßen Nostalgie. Nicht so in diesen Novembertagen in Stuttgart. Was schon allein der Ort belegt, an dem zum Auftakt der Woche die Jubiläumsgala statt fand.

Staat machen im Staatstheater.

Kein Intendant eines großen Schauspielhauses, das einen Ruf zu verteidigen hat, öffnet die Tore seines Musentempels nur aus Höflichkeit einem fünfzigjährigen hölzernen Clown und einem fast achtzigjährigen Puppenspieler. Genau das aber tat Friedrich Schirmer, Schauspielintendant des Stuttgarter Staatstheaters. Und als er vor Beginn der Vorstellung vor ausverkauftem Haus das Publikum begrüßte, da durchzog ein Unterton die vordergründig launig-leichte Heiterkeit, mit der er seine Beziehung zu Gustaf-Albrecht und Albrecht-Gustaf beschrieb, ein Unterton, der nicht nur aus dem Mund sondern vor allem dem Herzen des renommierten Theatermannes kam: " Auf dem Menschentheater haben wir natürlich immer gesagt, klar Figurentheater, Marionetten, alles ganz wichtig, es muss immer herhalten für das, was auf dem Theater sonst nicht darstellbar ist. Also für die ganz Kleinen, die Zwerge oder Ungeheuer, Drachen, Riesen, Popanze, Bread and Puppet Theatre, große Leinwände, Stangen. <...> aber erst in Stuttgart habe ich dann sehen gelernt. Und Gustaf und Professor Roser haben mir die Augen geöffnet.<...> dass (ein Stuhl) auch eine Seele haben kann, das habe ich erst in Stuttgart durch Albrecht Roser und Gustaf gelernt.
Dass im Marionettentheater, Puppentheater, Materialtheater, Figurentheater, Theater der Dinge, nennen Sie es wie Sie wollen, das Ding plötzlich eine Seele hat und mich berührt. <...> Ich habe mich in dieser Schatzkammer bewegt, geschnüffelt, geguckt, gesucht, gefunden, immer mit ganz großem Respekt und ebensolcher Zuneigung. Dass in diesem Mikro-Makrokosmos, in diesem Paradies im Kleinen/Großen, aber auch die Hölle zuhause ist, das habe ich auch erfahren. Plätze der theatralischen Verzweiflung, der Angst, der Not, des theatralischen Unglücks, all das, was wir Theaterleute Ihnen, dem Publikum, doch so gern ersparen würden, aber das leider nicht zu umgehen ist, wenn es Sternstunden geben soll."

Puppenspieler - was sonst?

Sternstunden des Theaters sind Sternstunden der Seelenberührung. Und nicht von ungefähr zählte der Stuttgarter Intendant hier neben dem Menschentheater im gleichen Atemzug das "Marionettentheater, Puppentheater, Materialtheater, Figurentheater, Theater der Dinge, nennen Sie es wie Sie wollen..." auf, wohl wissend um den nicht zuletzt in der Stuttgarter Szene schwelenden und von Zeit zu Zeit heftig aufflammenden Streit um Begrifflichkeiten, wohl wissend auch um die Beharrlichkeit und manchmal Hartnäckigkeit, mit der Albrecht Roser dabei bleibt, ein Puppenspieler zu sein und nichts als ein Puppenspieler.
In den Tagen von Gustafs Jubiläum zum wiederholten Male eine Provokation all jener, die glauben, die Verneinung und Vermeidung dieser scheinbar antiquierten Berufsbezeichnung allein sei schon Innovation genug. Da steht Albrecht Roser, der bloße Puppenspieler, der reine Tor, an diesem Galaabend oben auf der Bühne des Staatstheaters, dort, wo sie - wenn sie ehrlich sind - eigentlich alle hin möchten mit ihren Figuren, Materialien, Dingen oder Nennen-sie-es-wie-sie-wollen, sei es nun in Stuttgart oder anderswo. Da steht er, und bevor das Spiel beginnt wirkt die Bühne eher eine Nummer zu groß für die unscheinbare Ausstattung mit dem schlichten Podest, den leblosen, offen am Ständer hängenden Figuren, mit den die schwäbische Sparsamkeit vortrefflich edelnden Scheinwerfern und einer Tontechnik, die angesichts des schlichten Kassettenrecorders samt seiner weit von hi-fi entfernten Lautsprecherqualität diesen Namen fast nicht verdient. Und dann beginnt, mit einem nüchtern einführenden Satz Albrecht Rosers, die Vorstellung. Und es beginnt jener unerhörte Zauber, dem man sich auch dann nicht entziehen kann, wenn man Gustaf und sein Ensemble schon zum x-ten Mal gesehen hat. Das aber haben viele, die an diesem Abend das Theater füllen - immer wieder das Gleiche gesehen und doch niemals Dasselbe.

Gustafs philosophischer Blick.

Immer wieder Schöpfung statt Reproduktion, um nur einen der vielen und immer nur annähernd zutreffenden Versuche zu nennen, die dieses Mysterium zu erklären versuchen. Bart Roccoberton, Direktor des Puppet Arts Program an der State University of Connecticut, USA, einer der zahlreichen Ehrengäste des Jubiläums, näherte sich diesem Faszinosum im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die unter dem Titel "Die Marionette - weltweite Tradition und Innovation am Faden" stand. Gemeinsam mit seinen Studenten habe er sich nach vielen Diskussionen die folgende Definition erarbeitet: "Eine Puppe ist ein leeres Gefäß, in das das Publikum und der Puppenspieler ihre Seelen hinein geben. Mit anderen Worten: das Publikum ist genauso verantwortlich für das Leben der Puppe wie der Puppenspieler selbst." Und nach einer kleinen Kunstpause folgt verschmitzt die Abweichung von der Regel: "Mit Ausnahme von Gustaf!" Was wiederum nur mit jener unnachahmlich amerikanischen Weise philosophischen Tiefgangs zu erklären ist, die sich in einer scheinbar simplen, beiläufigen Frage erschöpft. Einer Frage, die sich Bart Roccoberton immer wieder gestellt hat, wenn Albrecht Roser Gustaf aus dem Koffer holte: "Warum schaut er ausgerechnet mich an?". Ja, warum nur. Immer wieder hat Roser den Kern seiner Auffassung, seiner Philosophie von der Puppe und dem Puppenspiel, beschrieben. Nicht zuletzt in einem besonders lesenswerten Artikel für die Jubiläumsfestschrift, mit dem er sich seinem eigenen Mysterium annähert ohne es wirklich ganz entschleiern zu können. Was wohl auch so bleiben wird und gut ist, denn die nackte Wahrheit mag noch so erhellend sein, Geheimnisse birgt sie nicht mehr.

Kostproben ohne Rezept.

Wie sehr die Weisheit, dass die letzten Dinge nicht zu erklären sind, auch nach einer Binsenweisheit klingen mag - sie bleibt eine Weisheit, und sie war bei Rosers Jubiläum keineswegs nur während der Galavorstellung im Staatstheater spürbar. Die kleine aber feine Woche war kein Festival, das in Häppchenmanier für jeden von jedem etwas bot, sie beschränkte sich statt dessen auf Kostproben, die zum einen Albrecht Rosers weltweite Puppenspieler-Verbindungen widerspiegelten und zum anderen den Vorwurf widerlegten, der Altmeister der Marionette lasse nichts und niemanden neben oder gar nach sich gelten, der sein Verständnis vom Puppenspiel nicht teile. Für die weltweiten Verknüpfungen stand stellvertretend ein Puppenspieler, der mit seiner so ganz andere Kunst ebenfalls ein unumstrittener Meister seines Fachs ist und der ebenso wie Albrecht Roser auf ein halbes Jahrhundert Bühnenpräsenz mit Marionetten zurückblicken kann: Yi-que Huang, Direktor der Quanzhou Marionette Troupe aus dem ostchinesischen Fujian. Wobei unter den drei Vorstellungen der "Chinesischen Impressionen" die er in Stuttgart bot, zweifellos die gemeinsam mit Albrecht Roser gestaltete Matinée die faszinierndste war. Zwischen der chinesischen Tradition, die sich erst ganz allmählich und noch sehr zögernd neuen Impulsen aus Amerika und Europa öffnet, und den roserschen Marionetten liegen Welten, die nicht mit den Methoden klassischer Kritik zu messen sind. Sie zeigen aber auch, nicht zuletzt in den handelnden Personen der beiden Meister, die Gemeinsamkeit einer niemals endenden Leidenschaft und einer geradezu unerhört nach Vollkommenheit strebenden Intensität des Spiels. Hier wird kein schnelles Objekt bewegt, kein Material kurzfristig belebt, kein Ding bloß animiert, hier wird die Puppe zum Instrument, das der Spieler perfekt beherrscht , ob er es nun mit zwanzig Fäden zum Klingen bringt oder ob es in seiner minimalistischsten Form nur einen einzigen Faden hat und nicht mehr als ein schlichtes Pendel zu sein scheint. Und doch schon eine Puppe ist.

Und schließlich waren im Rahmen der Jubiläumswoche noch zwei Künstler der jungen Generation zu sehen, die nicht zuletzt in ihrer Verschiedenheit jenes hartnäckige Vorurteil widerlegen, Albrecht Roser könne es ohnehin niemand recht machen, er halte hartnäckig, wenn nicht gar stur an einem Puppenspiel fest, das sich letztlich jeder Innovation widersetze. Einspruch, euer Ehren. Frank Soehnle, figurentheater tübingen, mit der "Flamingo Bar" und Ilka Schönbein, Theater Meschugge, mit "Metamorphosen" traten den beeindruckenden Gegenbeweis an. Beide haben auf ganz unterschiedliche Weise Rosers Weg gekreuzt, sind ein Stück mit ihm gegangen um dann ihre eigene, individuelle Richtung einzuschlagen. Frank Soehnle gehörte zu den ersten Studierenden des Studiengangs Figurentheater an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, den Albrecht Roser vor fast zwanzig Jahren politisch und finanziell gegen viele Widerstände durchgesetzt hat. Bei ihm hat er das Spiel mit den Marionetten perfektioniert, sich später aber keineswegs darauf beschränkt. Längst gehört sein Tübinger Theater zu den renommierten und international anerkannten Bühnen, er selbst unterrichtet heute an der Stuttgarter Hochschule. Und hat nie vergessen, was er bei Roser gelernt hat. So sagte er anlässlich von Gustafs fünfzigsten Geburtstag in einem Zeitungsinterview über seinen Lehrer: "Zuerst wollte ich immer Rezepte haben. Genau wie meine Studenten heute von mir. Es geht aber beim Figurenspiel nicht darum zu lernen, wie etwas funktioniert, um es dann zu imitieren, sondern man muss die Antworten in sich selbst finden. Das ist das Zentrale, was ich bei der Arbeit mit Albrecht Roser gelernt habe.... Die Marionette ist bestimmt die komplizierteste Figurenart, die es gibt, und dabei ja nichts anderes als ein Pendel. Roser vermittelt wie kein Zweiter die mechanischen und kinetischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen man sich bewegen muss. Er brachte mir auch das Bewusstsein bei, dass ich eine Figur nicht beherrschen kann. Man kann ihr nur einen Impuls geben und muss ihr dann zuhören, um zu erfahren, was sie will." Genau das tut auch Ilka Schönbein, die sperrige, in keine Schublade passende Quereinsteigerin und Querspielerin, die punktuell immer wieder mit Albrecht Roser gearbeitet und gerungen hat. Heute ist sie eine nach wie vor im motorisierten Thespiskarren zwischen Festivals und großen Theaterengagements pendelnde Künstlerin von besonderer Klasse. Sie besetzte mit ihren "Metamorphosen" aus dem bedrohten jüdischen Ghetto zur Zeit des Nationalsozialismus genau jenen Platz, den der Stuttgarter Intendant Friedrich Schirmer zu Beginn des Jubiläums als "Platz der theatralischen Verzweiflung, der Angst, der Not, des theatralischen Unglücks" bezeichnet hatte "all das, was wir Theaterleute dem Publikum, doch so gern ersparen würden, aber das leider nicht zu umgehen ist, wenn es Sternstunden geben soll."

Last but not least...

Und was es sonst noch zu berichten gäbe am Rande dieses Jubiläums, die ausverkauften Vorstellungen, die Verleihung des Obraszow-Preises an Albrecht Roser und die erste gemeinsame Ehren-Proklamation der beiden großen amerikanischen Puppenspielorganisationen "Puppeteers of America" und "UNIMA USA" für einen Puppenspieler, die Ehrengäste aus aller Herren Länder, die schriftlichen und mündlichen Grußworte aus prominenten Federn und Mündern - das alles könnte schon wieder die eingangs erwähnte Gefahr eines nostalgischen Abgesangs heraufbeschwören. Um der Chronistenpflicht willen sei es dennoch erwähnt. Und last but not least auch des Schauspielintendanten fast flehentliche Beschwörung, mit der er sich am Eröffnungsabend an Albrecht Roser wandte: " Sie haben in einem bemerkenswerten Interview folgendes gesagt: Gustaf, das ist eine Figur, die wird viel länger leben, als ich, ob sie auch gespielt wird, weiß ich nicht, das wird man sehen. Und es steht mir ja vielleicht nicht zu, aber ich habe eine ganz große Bitte an sie beide: Sorgt dafür, dass Gustaf in gute, in begnadete Hände kommt, dass er vielleicht in 50 Jahren, in 75 Jahren andern erzählen kann, wie alles anfing 1951 in Stuttgart, wenn wir alle dann nicht mehr dabei sind. Und Gustaf, eins kann ich Dir sagen: Im Museum ist es langweilig."





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